Während es in vielen Branchen gängige Methode ist, Ideen als Eigentum zu schützen, verhält es sich im Bereich der Inklusion oftmals anders. Hier ist Abgucken oftmals erwünscht! Selbsthilfegruppen fordern dies schon seit Langem.
Bereits im Sommer diesen Jahres, zum Fachtag inklusive Lernkultur, verabredeten Kathrin Bauer und Thomas Stöckle von der Gedenkstätte Grafeneck, Wiebke Bathe vom Volksbund in Hessen sowie Alexander Wicker und Matthias Müller-Stehlik, beide von der BiP-vhs im hessischen Gelnhausen, einen engeren Austausch über inklusive Projekte. Am 8. September war es dann soweit und die Gäste aus Hessen trafen in der Gedenkstätte zum Austausch ein.
Es treffen sich zum Austausch (von links): Matthias Müller-Stehlik (Organisatorisch-pädagogischer Mitarbeiter im Projekt „Inklusion an hessischen vhs“ an der BiP-vhs), Wiebke Bathe (Referentin für Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.), Thomas Stöckle (Leiter der Gedenkstätte Grafeneck), Alexander Wicker (Fachbereichsleiter und Leiter des Projekts „Inklusion an hessischen vhs“ an der BiP-vhs), Kathrin Bauer (Pädagogische Mitarbeiterin an der Gedenkstätte Grafeneck), Thu-Hanh Bui (absolviert derzeit ihr FSJ an der Gedenkstätte)
Alle Beteiligten arbeiten seit längerem an der Entwicklung inklusiver Bildungskonzepte, insbesondere hinsichtlich historisch-politischer Bildungsangebote. Darum ging es gleich zu Beginn des Austauschs, bevor den Gästen aus Hessen in einer Führung die Gedenkstätte Grafeneck vorgestellt wurde.
In der Bibliothek der Gedenkstätte begann der Austausch in lockerer Runde bei Kaffee und leckeren „Wecken“. Wiebke Bathe erklärte zunächst, warum sich der Volksbund in Hessen auf den Weg gemacht hat, Schicksale von Menschen zu erforschen, die auf hessischen Kriegsgräberstätten bestattet sind. Mit zunehmendem Abstand zum Zweiten Weltkrieg nehme die Bedeutung von Kriegsgräberstätten ab, so Bathe. Die erhoffte Mahnung, die von Kriegsgräberstätten für nachfolgende Generationen ausgehen soll, stelle sich nicht selbstverständlich ein: Kriegsgräberstätten müssten erklärt werden. Daher habe sich der Landesverband Hessen zum Ziel gesetzt, möglichst viele Kriegsgräberstätten zu erforschen. So solle in jedem hessischen Landkreis eine der größeren Kriegsgräberstätten erforscht werden. Die Ergebnisse würden dann auf Informationstafeln oder -broschüren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und auf dieser Grundlage pädagogische Angebote für Schulen und andere Bildungseinrichtungen bereitgestellt.
Wiebke Bathe, Alexander Wicker und Matthias Müller-Stehlik erläuterten dem Team der Gedenkstätte danach die Zusammenarbeit zwischen dem Volksbund und der BiP-vhs in Sachen Inklusion und historisch-politischer Bildungsangebote. Zentral dafür ist die Lernstation Kriegsgräberstätte, die sich seit 2011 im Bildungshaus der BiP-vhs in der Barbarossastadt Gelnhausen befindet. Sie wurde vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge entwickelt und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für multiperspektivische historisch-politische Bildung. Aufgrund des regionalhistorischen Bezugs der Lernstation werden Fragen nach Ursachen von Gewaltprozessen vor der eigenen Haustür thematisiert. Die inhaltliche Basis der Lernstation bildeten zunächst sieben im Rahmen des Forschungsprojekts des Landesverbands recherchierte und in einer Handreichung veröffentlichte exemplarische Einzelschicksale der Kriegsgräberstätte Schlüchtern sowie ein Hanauer Schicksal. Im Rahmen des Verbundprojekts „Inklusive vhs in Hessen“ wurde die Lernstation zwischen 2018 und 2020 durch den Abbau von Barrieren auch für neue Zielgruppen und Angebote nutzbar gemacht. Da das Gebäude der Bildungspartner, in dem die Lernstation beheimatet ist, bereits den baulichen Vorgaben zur Barrierefreiheit entspricht, konnten sich die Projektbeteiligten auf die inhaltliche Zugänglichkeit konzentrieren. So sind die Inhalte zunächst um die Einzelschicksale zweier aus Gelnhausen stammender Opfer der sogenannten NS-„Euthanasie“ erweitert, die im Zuge der „Aktion T4“ in den Tötungsanstalten Hadamar und „Altes Zuchthaus“ in Brandenburg an der Havel ermordet wurden.
In einem zweiten Schritt wurde eine Website entwickelt, die die Lernstation im virtuellen Raum widerspiegelt. Da der Abbau von Barrieren sowohl für Menschen mit kognitiven als auch mit visuellen sowie Mobilitäts-Einschränkungen geschehen sollte, ist die Lernstation mit taktilen QR-Codes ausgestattet worden, um über die in die QR-Codes geprägte Brailleschrift auf die Website aufmerksam zu machen. Die taktilen QR-Codes befinden sich zudem in einem ausleibaren Katalog, der die Inhalte der Lernstation abbildet und für Menschen entwickelt wurde, die die Lernstation im oberen Bereich nicht betrachten können. Auf der Internetseite wurden die Informationen zu den Einzelschicksalen sowohl in Schwerer Sprache als auch in Leichter Sprache auf den zwei Niveaus A1 und A2 verfügbar gemacht. Darüber hinaus finden Nutzer*innen auf der Website zugehörige Audiodateien, die ebenfalls in Schwerer und in Leichter Sprache sowie durch die Einbeziehung von Bildbeschreibungen die Inhalte der Lernstation erfahrbar machen. Die Vorteile des Katalogs machten sich bei dem Besuch in Grafeneck auch dadurch bemerkbar, dass dieser den Gastgebern überreicht werden konnte. So konnte die Gelnhäuser Lernstation und ihre inklusive Zugänglichmachung auch in Grafeneck vorgestellt werden.
Das Folgeprojekt zur Lernstation hat nun zum Ziel, die Angebote der historisch-politischen Bildung inklusiv auszuweiten. So werden derzeit Bildungsangebote auf Basis der barrierearmen „Lernstation Kriegsgräberstätte“ inklusiv entwickelt. Die Bildungsangebote werden partizipativ, d. h. gemeinsam mit Menschen mit Behinderung konzipiert, wodurch das Know-How der Zielgruppen mit einbezogen wird. Wie bereits bei der Lernstation selbst, ist hier eine enge Kooperation mit dem Behinderten-Werk Main-Kinzig e. V. vorgesehen.
Da Bildungsangebote in Grafeneck ebenso barrierefrei gestaltet wurden, wollten sich die Hessen Einblicke verschaffen, welche Wege hier gegangen wurden.
Entsprechend interessiert zeigten sich die Gäste aus Hessen bei der Führung durch die Gedenkstätte auf der Schwäbischen Alb. Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte, erläuterte dabei einerseits die Ausstellung im Dokumentationszentrum, die neben verschiedenen Erinnerungsstationen auf dem gesamten Gelände zu besichtigen ist, andererseits ging er auf den Abbau von Barrieren und die ortsspezifischen Herausforderungen ein. Die Institution führte, so Stöckle, von 2014 bis 2016 das Modellprojekt „Barrierefreie Gedenkstätte“ als Kooperation zwischen Sonder- und Gedenkstättenpädagogik durch. Kathrin Bauer, wissenschaftliche und pädagogische Mitarbeiterin erklärte hierzu, dass dabei Bildungsangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt und erprobt worden seien, die seitdem praktisch umgesetzt würden und somit zum pädagogischen Alltag der Gedenkstätte gehörten. Grundlage dafür sei ein pädagogisch-didaktisches Konzept für Seminare und Führungen, welches in Zusammenarbeit mit dem Diplom-Sonderpädagogen und Sonderschullehrer Sebastian Priwitzer und der Historikerin Franka Rößner entstand. Hierbei habe die Reduzierung kognitiver, sprachlicher und sensorischer Barrieren im Mittelpunkt gestanden, wodurch Bildungsangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten etabliert werden konnten. Auch sind Texte in Leichter Sprache zur Ergänzung der Dauerausstellung im Dokumentationszentrum entstanden. Dank des Projekts „Barrierefreie Gedenkstätte“ können Besucher*innen heute im Büro der Gedenkstätte Audio-Guides mit einer Hörversion der Ausstellung in Leichter Sprache ausleihen oder einen Orientierungs-Plan in Leichter Sprache erhalten, um sich in der Gedenkstätte zurechtzufinden. Darüber hinaus wird ein Ausstellungsbegleitband in Leichter Sprache zum Kauf angeboten und die Homepage der Gedenkstätte ist in Leichter Sprache aufrufbar. Bauer, die den Gästen aus Hessen Einblick in die inklusiven pädagogischen Materialien für Führungen und Seminare gab, erklärte, dass es bei der praktischen Umsetzung in den Seminaren insbesondere darum gehe, die Seminarteilnehmenden behutsam mitzunehmen. Das heiße, Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, die mit einem so emotionalen Thema, wie dem der Euthanasie-Morde konfrontiert würden, ausreichend Zeit benötigten, um den zu vermittelnden Stoff emotional einzuordnen. Um das zu gewährleisten, arbeite Bauer mit einem möglichst offenen Konzept, das es erlaube, Seminarabschnitte flexibel zu bearbeiten oder auch einmal außerplanmäßige Pausen einzulegen. In Bezug auf Menschen mit kognitiven oder Lern-Beeinträchtigungen, für die die Seminare auch in Leichter Sprache angeboten würden, erklärte Bauer, dass im Rahmen des Projekts: „Barrierefreie Gedenkstätte“ auch ein Konzept zur Vor- und Nachbereitung der Führung erarbeitet worden sei. Das sei vor dem Hintergrund des Umgangs mit – manchmal unerwarteten – Emotionen wichtig. So sei es den Gruppen im Vorfeld möglich, sich bestmöglich darauf vorzubereiten, worauf sie sich einließen. Aber auch für Betreuende selbst sei dies wichtig. So kämen manche Gruppenbetreuer*innen mit dem Anliegen nach Grafeneck, MmB sollten verstehen, dass sie damals selbst Opfer gewesen seien. Im Konzept werde daher explizit darauf hingewiesen, dass das Team der Gedenkstätte dieses Anliegen nicht teile, da es – von außen herangetragen– eine emotionale Zumutung bedeute. Wir besprechen, wer die Opfer waren und nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurden. Wir überlassen aber den Seminarteilnehmenden, in welcher Nähe sie sich zu der Opfergruppe sähen, so Bauer. Die Gedenkstätte biete außerdem an, Nachbereitungen vor Ort, in Schulen oder Betreuungseinrichtungen zu begleiten.
Alle Beteiligten waren sich am Ende einig, dass der Austausch sehr befruchtend für die weitere Arbeit in den Inklusionsprojekten war. Die Gäste aus Hessen nahmen für die Entwicklung der Bildungsangebote zur Lernstation einiges mit. Insbesondere das Konzept mit Hinweisen „vor, während und nach der Führung“ war für die Hessen neu. „Auch, wenn wir uns schon seit vielen Jahren auf den Weg zur Inklusion gemacht haben, lernen wir immer weiter dazu,“ so Alexander Wicker. Inklusion dürfe niemals als abgeschlossener Prozess betrachtet werden. Ziel werde immer sein, sich Inklusion so weit wie möglich anzunähern. Dabei ist Abschauen nicht nur erlaubt, sondern notwendig – und im Falle der Gedenkstätte Grafeneck sogar ausdrücklich erwünscht. Die Hess*innen bedankten sich zum Abschluss für die Einblicke in die Arbeit in Grafeneck und die Zeit, die die Kolleg*innen dem Besuch gewidmet hatten.
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